GEISTLICHE IMPULSE

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Die wunderbare Zeitvermehrung

– Lothar Zenetti –

Und er sah eine große Menge Volkes.

Die Menschen taten ihm Leid, und er redete zu ihnen von der unwiderstehlichen Liebe Gottes.

Als es dann Abend wurde, sagten seine Jünger: Herr, schicke diese Leute fort. Es ist schon spät, sie haben keine Zeit.

Gebt ihnen doch davon, so sagte er, gebt ihnen doch von eurer Zeit!

Wir haben selber keine, fanden sie, und was wir haben, dieses wenige, wie soll das reichen für so viele?

Doch war da einer unter ihnen, der hatte wohl noch fünf Termine frei, mehr nicht, zur Not, dazu zwei Viertelstunden.

Und Jesus nahm, mit einem Lächeln, die fünf Termine, die sie hatten, und die beiden Viertelstunden in die Hand.

Er blickte auf zum Himmel, sprach das Dankgebet und Lob, dann ließ er austeilen die kostbare Zeit, durch seine Jünger an die vielen Menschen.

Und siehe da: Es reichte nun das wenige für alle.

Am Ende füllten sie sogar zwölf Tage voll mit dem, was übrig war an Zeit, das war nicht wenig.

Es wird berichtet, dass sie staunten.

Denn möglich ist, das sahen sie, Unmögliches bei ihm.

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Predigt von Bischof Dr. Franz-Josef Bode am 30. November 2021
in der Pfarrkirche St. Elisabeth, Osnabrück
(Dienstag der 1. Adventswoche)
Lesung: Jes 11,1-4a
Evangelium: Mt 7,24-27

„Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor.“ Dieser Satz, den wir gerade in der Adventslesung gehört haben, ist uns allen so bekannt, dass wir seine Tiefe nur noch selten mitbekommen und erst recht nicht, was er uns in unserer dramatischen Situation sagen soll.
Wichtig ist, dass wir zunächst auf den Baumstumpf schauen. Hier ist Kahlschlag geschehen, alles abgeschnitten, eine kahl abweisende Schnittfläche, wo vorher ein lebendiger Baum stand. So ist es uns allen Anfang November gegangen, als wir von dem schrecklichen Verdacht gegen Ihren Pfarrer erfuhren. (Verdacht auf Besitz von Kinderpornografie [Redaktion])

Es war etwas Lebendiges abgeschnitten und zerstört, und die Reaktionen reichten und reichen bis heute von Wut, Enttäuschung, Trauer bis Unverständnis, Ratlosigkeit und völligem Vertrauensverlust. In vielen Gesprächen und Begegnungen musste das gegenseitig oder mit Hilfe des Bistums aufgefangen oder begleitet werden. Wenn wir in unserem Missbrauchs-Schutzkonzept schnell von ,irritierten Systemen‘ sprechen, dann haben wir schmerzlich erfahren müssen, welche tiefen Irritationen in wievielen Systemen so etwas hervorruft und hinterlässt.
Ich sage ,Wir‘, weil Sie mir glauben dürfen, dass mich in den letzten Jahren selten etwas so betroffen und irritiert hat wie diese Erfahrung in Ihrer Pfarrei: Kahlschlag, Abschlag, abweisende Leere.
Die Verse, die bei Jesaja vor der heutigen Lesung stehen, sind auch entsprechend dramatisch. Da heißt es: Hochgewachsene werden gefällt und Emporragende sinken nieder, wenn das Dickicht des Waldes mit Eisen gerodet wird. Und dann erst kommt dieses erlösende „Doch“: Doch nach geraumer Zeit wächst aus der alten Wurzelkraft
des Baumes ein Reis hervor, etwas, das ganz neu ansetzt und auf die Zukunft gerichtet ist.
Auch das war in den vergangenen 14 Tagen erfahrbar, dass Menschen nach vorn schauen und mit Vernunft und Geduld überlegen, wie alles weiter gehen kann, hier in den Gemeinden dieser Pfarrei und für die verschiedenen Einrichtungen und Gruppen wie etwa die Kindergärten, die Schulen oder die Erstkommunionvorbereitung.

Ich bin allen von ganzem Herzen dankbar, die ihre Fragen und Irritationen nicht unterdrückt haben und sich offen geäußert und eingebracht haben, auch schriftlich, die aber darüber hinaus die Kraft gefunden haben, nach vorn zu schauen in dieser völlig veränderten Situation: Pastor Pliesch, Domkapitular Dr. Schomaker und das ganze Team. Das ist ein Zeichen solchen Geistes, wie er hier vom Reis aus der alten Wurzel beschrieben ist.

Es ist der Geist, der sich in seinen Gaben zeigt, die wir alle aus der Firmspendung kennen und die in dieser Lage Ihrer Gemeinden, aber auch unseres Bistums und der Kirche überhaupt von höchster Bedeutung sind: Weisheit, Einsicht, Rat, Stärke, Erkenntnis, Furcht des Herrn. Das heißt doch: unterscheiden, entscheiden; sich differenziert befassen, neue Einsichten gewinnen über alle plakativen und pauschalen Urteile hinaus; sich gegenseitig mit Rat und Tat zur Seite stehen und die verschiedenen Begabungen einbringen ins Ganze; die Stärke, trotz allem zu bleiben und Zukunft mitzugestalten, die Stärke, zu den eigenen Schwächen zu stehen; Erkenntnis: den Verstand und die Vernunft einzusetzen und zu neuer Sachlichkeit zu finden inmitten der vielen völlig berechtigten Emotionen; Furcht des Herrn meint nicht die Angst vor einem Gott, dem alles egal ist oder der ein strafender Gott wäre, sondern die vertrauensvolle Gewissheit, dass Gott auch noch größer ist als dieses alles, größer als unser Herz, dass so verwundet ist und schmerzt, größer auch als die Taten von Menschen, die wir nicht verstehen, größer als all das Unfassbare, was uns in diesem Zusammenhang begegnet.

Aus diesem Vertrauen heraus richten wir nicht nur nach dem Augenschein und entscheiden wir nicht nach dem Hörensagen, sondern blicken mit den Augen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe auf all die beteiligten Personen, was niemals bedeutet wegzuschauen, sondern richtig hinzusehen. Vor allem auf die Kinder, die die wirklichen Opfer solchen Geschehens sind.

Auch die nächste Zeit wird noch voll davon sein, weiter mit diesem Verdacht umzugehen und die Realitäten in ihrer Entwicklung abzuwarten, bis die Dinge klarer und deutlicher für uns alle werden. Die Beteiligten in Staatsanwaltschaft und Bistum werden das Ihre tun, wie eben auch die verantwortlichen Christinnen und Christen dieser Pfarrei.

Auch die vielen großen systemischen Fragen, die sich auftun, werden weiter mitgenommen in unseren synodalen Prozessen, denn sie erden auf zum Teil schmerzliche Weise alle Überlegungen und Gespräche noch tiefer.

Auch der Pfarrer wird sich bei Erhärtung des Verdachts einem – nicht nur juristischen – Prozess stellen müssen, auch einem persönlichen und geistlichen Prozess, der auf den Grund seiner Seele und seines Herzens führen muss.

Das Wort „Grund“ ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Was uns fast zu Grunde richtet, führt uns oft auch auf den Grund der Dinge. Deshalb habe ich das Ende der Bergpredigt Jesu als Evangelium für diese Stunde ausgewählt.

„Jeder, der meine Worte hört und danach handelt“, sagt Jesus, „ist wie ein kluger Mensch, der sein Haus auf Felsen, auf festen Grund baute und nicht auf Sand.“ Mit diesen Worten ist die ganze Bergpredigt Jesu gemeint mit ihren großen
Provokationen und ihren großen Verheißungen. Dort finden wir gute Herausforderungen zum Umgang miteinander und für unser Leben vor Gott. Worte, die uns Einfachheit und Demut lehren, Einsicht in die Zerbrechlichkeit der Menschen, aber auch darin, wie abgründig der Mensch mitten in aller Frömmigkeit sein kann.

Worte, die uns lehren, wie der Mensch sich den Versuchungen der Gewalt entziehen kann und alle Doppeldeutigkeit überwinden kann, wie er in der rechten Weise beten soll und mit den Sorgen des Alltags umgehen soll, die ihn nicht zu übermächtigen brauchen, selbst in diesen verrückten Zeiten nicht.

Ja, der Lebensstil Jesu, der in der Bergpredigt und in seinem Tun offenbar wird und den wir immer neu von ihm lernen sollten, lehrt uns, hinter ihm herzubleiben und so auf dem guten Grund zu leben und zu handeln und gute Haltungen zu entwickeln, die den Stürmen und Fluten des Lebens gewachsen sind. Fluten von Bildern und Reizen, Fluten von Verlockungen und Versuchungen, Fluten von Klimaschädlichem, nicht nur in Natur und Umwelt, sondern auch im menschlichen Miteinander.

Wer sein Lebenshaus auf Gott und den Lebensstil seines Sohnes baut, erfährt den Geist Gottes, der aus der alten Wurzelkraft unseres Glaubens und unserer Kirche doch neue, oft zarte und empfindliche Triebe der Zukunft wachsen lässt, die ich uns allen in dieser Zeit an diesem Ort besonders wünsche. Das ist dann unser aller besonderer Advent 2021, in dem Gott auch in diesem Jahr uns entgegenkommt.
Amen.

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Beten zum Du

Ein Fundstück: Elisabeth Lukas in: „Frankl und Gott“ (Verlag Neue Stadt, München 2019)

Eine der weisesten Erkenntnisse des Psychotherapeuten Viktor Frankl war, dass der Mensch besser nicht von Gott, sondern lieber zu Gott sprechen solle. Frankl bedauerte, dass „im Zuge der Versachlichung des Menschen aus dem Ich ein Es wird, im Zuge der Vermassung der Menschheit aus dem Wir ein Man wird und im Zuge der Entpersönlichung Gottes aus dem Du ein Er wird“. Von Gott als „ihm“ zu sprechen, sei eigentlich falsch. Das uns zustehende Pronomen sei das Du.

Viktor Frankl schrieb: „Was rettet nun die Duhaftigkeit? Was ist allein imstande, Gott in seiner Duhaftigkeit – das göttliche Du als Du – augenblicklich aufleuchten zu lassen? Das Gebet: Es ist der einzige Akt menschlichen Geistes, der Gott als Du präsent zu machen vermag.“ Der Mensch schwingt sich auch im Gebet, im Du-Sagen, weg vom Ich und hin zu jenem Du, das er intendiert und ersehnt seit Urzeiten, weil es – seine Wiege ist.

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… halte mich! (Ein Klagepsalm zur Flutkatastrophe in Deutschland)

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Schreien will ich zu Dir, Gott, mit verwundeter Seele,

doch meine Worte gefrieren mir auf der Zunge.

Es ist kalt in mir, wie gestorben sind alle Gefühle.

Starr blicken meine Augen auf meine zerbrochene Welt.

Der Bach, den ich von Kind an liebte,

sein plätscherndes Rauschen war wie Musik.

Zum todbringenden Ungeheuer wurde er,

seine gefrässigen Fluten verschlangen ohne Erbarmen.

Alles wurde mir genommen. Alles!

Weggespült das, was ich mein Leben nannte.

Mir blieb nur das Hemd nasskalt am Körper,

ohne Schuhe kauerte ich auf dem Dach.

Stundenlang schrie ich um Hilfe,

um mich herum die reißenden Wasser.

Wo warst Du, Gott, Ewiger,

hast Du uns endgültig verlassen?

Baust Du längst an einer neuen Erde,

irgendwo fern in Deinen unendlichen Weiten?

Mit tödlichem Tempo füllten schlammige Wasser die Häuser,

grausig ertranken Menschen in ihren eigenen Zimmern.

Ist Dir das alles völlig egal, Unbegreiflicher?

Du bist doch allmächtig, Dein Fingerschnippen hätte genügt.

Die Eifernden, die Dich zu kennen glauben, sagen,

eine Lektion hättest Du uns erteilen wollen, eine deutliche,

eine Portion Sintflut als Strafe für unsere Vergehen,

für unsere Verbrechen an der Natur, an Deiner Schöpfung.

Ihre geschwätzigen Mäuler mögen für immer verschlossen sein,

nie wieder sollen sie Deinen Namen missbrauchen

für ihre törichten Besserwissereien, ihr bissiges Urteil

mit erhobenem Zeigefinger, bigott kaschiert.

Niemals will ich das glauben, niemals!

Du bist kein grausamer Götze des Elends,

Du sendest kein Leid, kein gnadenloses Unheil

und hast kein Gefallen an unseren Schmerzen.

Doch Du machst es mir schwer, das wirklich zu glauben.

Ich weiß, wir sind nicht schuldlos an manchem Elend,

zu leichtfertig missbrauchen wir oft unsere Freiheit.

Doch warum siehst Du dann zu, fährst nicht dazwischen,

bewahrst uns nicht vor uns selbst?

Dein Schweigen quält meine Seele,

ich halte es fast nicht mehr aus.

Wie sich Schlamm und Schutt meterhoch türmen

in den zerstörten Straßen und Gassen

und deren Schönheit sich nicht mehr erkennen lässt,

so sehr vermisst meine Seele Dein Licht.

Meine gewohnten Gebete verstummen,

meine Hände zu falten gelingt mir nicht.

So werfe ich meine Tränen in den Himmel,

meine Wut schleudere ich Dir vor die Füße.

Hörst Du mein Klagen, mein verzweifeltes Stammeln?

Ist das auch ein Beten in Deinen Augen?

Dann bin ich so fromm wie nie,

mein Herz quillt über von solchen Gebeten.

Doch lass mich nicht versinken in meinen dunklen Gedanken,

erinnere mich an Deine Nähe in früheren Zeiten.

Ich will dankbar sein für die Hilfe, die mir zuteil wird,

für die tröstende Schulter, an die ich mich lehne.

Ich schaue auf und sehe helfende Hände,

die jetz da sind, ohne Applaus, einfach so.

Die vielen, die jetzt kommen und bleiben,

die Schmerzen lindern, Wunden heilen,

die des Leibes wie die der Seele,

mit langem Atem und sehr viel Geduld.

Auch wenn Du mir rätselhaft bist, Gott,

noch unbegreiflicher jetzt, unendlich fern,

so will ich dennoch glauben an Dich,

widerständig, trotzig, egal, was dagegenspricht.

Sollen die Spötter mich zynisch belächeln,

ich will hoffen auf Deine Nähe an meiner Seite.

Würdest Du doch nur endlich Dein Schweigen beenden!

Doch ich halte es aus und halte Dich aus, oh Gott.

Halte Du mich aus!

Und halte mich, Ewiger! Halte mich!

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(TEXT: Stephan Wahl, Priester des Bistums Trier. Er stammt selbst aus dem schwer betroffenen Landkreis Neuenahr-Ahrweiler. Abgedruckt im KIRCHENBOTEN vom 25. Juli 2021)

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Predigt   Andreas Langkau

Die Heilung eines Besessenen: Markus-Evangelium 1, 21-28

Sie kamen nach Kafarnaum. Und sogleich ging Jesus am Sabbat in die Synagoge und lehrte.

Und die Menschen waren überwältigt von seiner Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten.

Und sogleich war da in ihrer Synagoge ein Mann mit einem unreinen Geist, der schrie laut:

„Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazaret! Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!“

Und Jesus schrie ihn an und sprach: „Verstumme und fahr aus!“

Und der unreine Geist zerrte ihn hin und her, schrie mit lauter Stimme und fuhr aus.

Die Menschen  erschraken alle so sehr, dass einer den andern fragte: „Was ist das? Eine neue Lehre aus Vollmacht? Selbst den unreinen Geistern gebietet er, und sie gehorchen ihm.“

Und die Kunde von ihm drang sogleich hinaus ins ganze Umland von Galiläa.

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Liebe Schwestern und Brüder, liebe Kinder!

Das war mal ein Paukenschlag! Der erste öffentliche Auftritt Jesu nach dem Markus-Evangelium ist gleich verbunden mit einem Exorzismus, also mit einer Dämonen-Austreibung. Da wird geschrien und getobt, da stehen Menschen fassungslos dabei und dann macht die Nachricht die Runde durchs ganze Land – fast so schnell wie heute über Twitter.

Ich möchte mit Euch und Ihnen heute zum einen auf diesen kurzen Text schauen. Zum andern möchte ich fragen: Was hat das mit uns zu tun?

Davor aber noch ein wichtiger Hinweis: Wir hören hier und an vielen Stellen der Bibel von „unreinen Geistern“ und „Dämonen“. Das sind keine Geister im Sinne von „Gespenstern“ wie Huibuh oder der kopflose Nick bei Harry Potter. Diese Geister heißen in der Bibel „Phantasma“. Und sie kommen im Neuen Testament genau 1 x vor: Als Jesus nachts über das Wasser ging, da glaubten die Jünger, ein Phantasma zu sehen – also eine Phantasie, ein Gespenst, in Englisch: a ghost.

Doch die Dämonen sind keine Bilder von Teufelchen mit Hörnern oder fiese Gespenster. Kein Mensch hat damals daran gezweifelt, dass gute wie böse Geister echt und real sind. Sie hießen Ruach oder Pneuma, das bedeutet so viel wie Atem, Hauch, Atmosphäre, im Englischen Spirit, Holy Spirit, Heiliger Geist – oder eben auch böser Geist.

So, nun geht’s aber los mit der Bibelstelle bei Markus!

Jesus predigt dort erstmals in der Synagoge. Und schon seine Worte, sein ganzes Auftreten hauen die Leute aus den Sandalen. „Sie waren überwältigt von seiner Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat.“ Vollmacht: „volle Macht“ über die Lehre von Gott, volle Macht über die Lehre vom Leben. Erstaunlich!

Nur einer von den Zuhörern staunt nicht, sondern beginnt laut zu schreien: „Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus! Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!“ Der da schreit, ist zwar ein Mann. Doch offensichtlich ist er nicht Herr seiner selbst. Er ist besetzt, ja besessen von etwas, das sich durch den vollmächtigen Auftritt Jesu extrem provoziert, ja bedroht fühlt: „Willst du uns vernichten?“ Der „unreine Geist“, der diesen Mann prägt und regiert, ahnt schon, nein: er weiß bereits, dass die volle Macht Jesu nicht nur in Worten besteht. Der Dämon kämpft dennoch um sein Leben. Er schreit sein Wissen heraus. Fast hört man ihn triumphieren: „Ich weiß etwas, was hier noch niemand weiß! Ich weiß, wer du wirklich bist: der Heilige Gottes.“ Der Dämon nennt Jesus öffentlich bei seinem wahren Wesen. Und damals wie heute bedeutet das „Macht über jemand haben“. 

So heißt es in der Heilkunde heute noch: „Geheilt werden kann nur, was auch angeschaut wird.“ Was ich nicht mehr verdränge, sondern benenne; wovor ich nicht länger die Augen verschließe, sondern hinschaue – da gewinne ich neue Macht und Möglichkeiten.

Und ihr Jüngeren kennt das aus der Schule. Es macht einen Unterschied, ob die Lehrerin nur allgemein „Ruhe!“ in die Klasse schreit, oder Euch direkt und laut beim Namen nennt.

Genau das versucht in unserem Bibeltext der Dämon: Er glaubt, dass er Jesus Angst machen kann mit seinem Wissen um dessen Wirklichkeit. Doch da ist er bei Jesus an der falschen Adresse! Wie Jesus vorher schon voll-mächtig über das Wort Gottes gepredigt hat, so spricht, nein: wörtlich „schreit“ er nun machtvoll über den bösen Geist: „Schweig und verschwinde!“

Und was macht der? Er windet sich und schreit noch einmal laut auf – und verlässt den Mann, den er besessen hat.

Erstaunlich! Und erschreckend!

Die Menschen damals in der Synagoge klatschten nicht etwa Applaus. Sie erschraken. Sie waren außer sich. „Wer ist das? Selbst die unreinen Geister gehorchen ihm!“

Was kannten denn die Juden? Sie kannten sehr wohl böse, knechtende Geister und Dämonen, die ihnen das Leben schwer machten. Und sie kannten Priester, die mit allen möglichen Beschwörungsformeln, mit Handauflegung und anderen Ritualen versuchten, diese Dämonen auszutreiben. Doch da steht jetzt einer drei Meter entfernt, der ruft einfach: „Weg mit Dir!“     … und der Dämon flieht!

Wir müssen uns klar machen, was das heißt: Jesus muss keine höhere Macht bitten, die eigentliche Arbeit zu tun. Jesus betet und bittet nicht zu Gott. Er selbst hat die Voll-Macht. Er selbst ist macht-voll. Der Evangelist Markus setzt damit gleich zu Beginn seines Evangeliums ein Ausrufezeichen. Jesus ist nicht irgendein Prediger unter vielen. Seine Predigt ist vielmehr die Predigt, die Deutung von Gottes Wirken in unserer Welt.   Jesus ist nicht irgendein Gehilfe Gottes unter vielen. Nein: Er ist die Hilfe Gottes unter uns. Er ist die Macht Gottes unter uns, die auch den Dämonen und üblen Geistern gebietet. Jesus ist der, der uns befreit. Punkt.

Nein: Ausrufezeichen!

So war das damals. Ist das auch heute so?

Viele Menschen sagen heute: „Böse Geister? Dämonen? Die gibt’s doch gar nicht! Wir können das alles wissenschaftlich erklären.“ Und sie leiten das Thema an Psychotherapeuten und Gehirnforscher weiter.

Ich sage: Sie haben recht. Und ich sage: Sie haben zugleich nicht recht!

Wie kann das sein: recht zu haben und gleichzeitig nicht recht zu haben?

Wir wissen heute tausendmal mehr über soziale und psychologische Zusammenhänge. Wir wissen heute tausendmal mehr als damals über unser Gehirn und wie es geprägt werden kann. Wir wissen, dass es keinen Dämon als „Geist“, als eigenes Wesen braucht, um Ängste und Zwänge, Machtphantasien und von bösen Gedanken besessene Menschen verstehen und mehr oder weniger behandeln zu können. Wir sind dem großen Geheimnis unseres eigenen Geistes und Verstandes näher gekommen. Wir haben Therapeuten, die „Besessene“ begleiten und “heilen“ können. Wir haben Medikamente, die den „Dämon“ vertreiben helfen. Und das ist gut so. Das hilft Millionen von Menschen. Es stimmt also: Wir brauchen heute keine Dämonenaustreibungen mehr wie damals bei und durch Jesus.

Und zugleich stimmt das eben auch nicht!

Denn das Dunkle in unserem Leben, das Böse in unserer Welt lässt sich nicht allein mit Hirnprozessen und sozialen Umständen erklären.

Wir Christen haben einen Sinn für das Göttliche, für das Gute und die Hoffnung in unserer Welt, für Liebe und Barmherzigkeit zwischen Menschen. Wir sagen: da ist noch mehr als Zahlen, Daten und Fakten. Die Welt ist größer und weiter als die Natur- und Geisteswissenschaften. Jeder Mensch ist viel tiefer geprägt als allein durch Eltern und Geschwister, gute und schlechte Erfahrungen. Jeder Mensch ist gewollt und geliebt von Gott. Das ist das Fundament unseres Glaubens. Diesen Glauben kann kein Psychologe beweisen oder widerlegen.

Und mit diesem Sinn, diesem Gespür für das Tiefere, für das, was hinter und in unserem Leben steckt – mit diesem Gespür ahnen wir: Die Erzählungen von Jesu Kampf gegen die bösen Geister und Dämonen sind kein „alter Krams“, sondern aktuell. Auch heute gibt es Menschen, die nicht Frau oder Herr ihrer selbst sind. Auch heute gibt es Menschen, die gesteuert und regiert werden von anderen, von Erlebnissen und Worten. Auch heute gibt es Menschen, die ein Geist im Griff hat, der nicht zum Leben, zur Freiheit und zur Weite führt, sondern zu Enge, Angst und Verzweiflung.

Ich nenne drei Beispiele:

  • In der Hamburger S-Bahn hörte ich, wie eine Mutter zu ihrem etwa 8-jährigen Sohn sagte: „Kinder mit nem Willen kriegen was auf die Brillen.“ Der Junge verstummte. Wenn dieser Junge diesen Spruch regelmäßig hört, dann wird dieser Satz sein Dämon sein – vielleicht ein Leben lang. Er wird ihn am Entscheiden, am Selbstvertrauen, an Freiheit hindern.      Doch auch dies: Ich bin damals nicht aufgestanden und habe mich neben den Jungen gesetzt. Ich habe nicht für den Jungen gekämpft und zur Mutter gesagt: „Schweig!“ Auch ich war damals geprägt und bestimmt von einem Geist, der nicht der Geist Jesu war …
  • Ein Mann ist im Tiefsten verunsichert. Er glaubt, allein über Macht, Reichtum und Anerkennung anderer könne er „jemand“ sein. Er schafft es, ganz groß rauszukommen. Er wird sogar Präsident eines großen Landes. (Das Land kann Amerika heißen oder Russland, Belarus oder China, Türkei oder auch Deutschland.) Doch weil ihn der Dämon der Macht besitzt, klebt er an seiner Macht, verfolgt seine Kritiker und missachtet Wahlergebnisse, die gegen ihn sprechen. Er streut tausendfaches Leid, nur um oben zu bleiben. Die Psychologie mag ihn durchschauen. Doch wer rettet ihn – und Millionen andere? …
  • Eine Frau entkommt nur knapp dem Terror des syrischen Bürgerkriegs. Sie hofft auf Rettung und neue Lebens-Chancen in Europa. Doch sie landet in den Lagern von Moria und Lipa in Griechenland und Bosnien.  In ihrem Leben wirken hunderte böse Geister, die ihr das Leben, die Liebe und die Hoffnung rauben. Und einer dieser Geister sind wir, wenn wir nicht aufstehen gegen die Art und Weise, wie sich Europa der Flüchtenden annimmt.

Was ist das Gemeinsame an diesen drei so unterschiedlichen Beispielen?

Wir sind alle verstrickt in eine Welt, die sich nicht allein durch Vernunft und Wissenschaft erklären und schon gar nicht heilen lässt.

Wir alle sind gebunden von Aber-Geistern, die uns daran hindern, das zu tun, was uns gut täte. Wir sind getauft und gefirmt im Geist Gottes – und doch viel zu ängstlich, zu zögerlich, zu brav und zu verwundbar.

Wir hoffen – bewusst oder unbewusst – auf einen guten, starken und befreienden Geist, der unser Leben weitet, erhellt, befreit und heilt. Genau das aber ist für uns der Heilige Geist, der Geist Gottes. Das ist der Spirit, der Esprit, die Kraft Jesu.

Wessen Macht denn sonst?

Das heutige Evangelium sagt uns in wenigen Sätzen: Da ist einer, der hat Voll-Macht über die Dämonen und Aber-Geister Deines Lebens. Da ist einer, der dem Klein- und Angstmacher in Dir widerstehen kann. Und dieser Jesus mit seinem voll-mächtigen Gott ist nah. Er ist in Dir. In Dir selbst lebt dieser Jesus-Gott. In Dir selbst sagt er zu Deinen bösen Geistern: „Stopp! Schweig und fahr aus!“

Glauben wir das? Hoffen wir das?

Bin ich, seid Ihr offen für diese Wirklichkeit?

Lassen wir sie zu?

Dann ist es immer noch sinnvoll, dass wir uns Freunden, Ärzten und Therapeuten anvertrauen. Doch in der Offenheit und mit der Ahnung: Da ist einer, der spricht zu mir das Wort: „Sei frei!“

Amen.

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Evangelium nach Johannes 1, 35–42

In jener Zeit stand Johannes am Jordan, wo er taufte, und zwei seiner Jünger standen bei ihm.
Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes!
Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus.
Jesus aber wandte sich um, und als er sah, dass sie ihm folgten, sagte er zu ihnen: Was sucht ihr?
Sie sagten zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister —, wo wohnst du?
Er sagte zu ihnen: Kommt und seht!
Da kamen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde.
Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren.
Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias gefunden – das heißt übersetzt: Christus – der Gesalbte.
Er führte ihn zu Jesus.
Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen, das bedeutet: Petrus, Fels.

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Predigt von Andreas Langkau

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Interesse. Dieses Wort kommt von lateinisch „inter-esse“: dazwischen sein.

Im Evangelium haben wir gerade gehört, wie bei zwei jungen Männern Inter-esse an Jesus geweckt wird. Sie laufen ihm nach und fragen ihn: „Rabbi, Lehrer, wo wohnst du?“

Und Jesus nimmt ihr Inter-esse wahr und ernst. Er sagt nicht: „Ich wohne da und dort.“ Nein! Er lädt sie ein: „Kommt und seht!“ Seid dabei, seid dazwischen, lernt mich kennen! Und sie blieben bei ihm.

Auch mein Inter-esse ist geweckt. Auch ich frage: „Jesus, wo wohnst Du?“ Und darin schwingt die Frage mit: „Gott, wo wohnst Du?“ Das bedeutet für mich nicht nur: „Wo finde ich Dich?“ Wichtiger ist für mich: „Wer bist Du? Wie nah bist Du mir?“ Inter-esse im wörtlichen Sinn: Was ist da zwischen mir und Dir?

Wo wohnt Gott?

Kinder antworten auf diese Frage oft mit: „Gott wohnt im Himmel“. Doch wo ist ‚der Himmel‘? Einfach oben im Sinn von ‚hinterm Mond‘ kann das ja wohl nicht bedeuten …

Ich begebe mich auf Spurensuche.

Zuerst in der Bibel, denn dort haben viele Menschen ihre Erfahrungen mit Gott festgehalten. Dann bei Christen, die wahrscheinlich tiefer mit Jesus und Gott verbunden waren als ich.

Als das Volk Israel Gott näher kennen lernte, kannte es keine Wohnung für Gott. Es hatte ja selbst keine Wohnung. Abraham, Isaak und Jakob waren Nomaden.

Ihr Gott war ein Wege-Gott, ein Gott, der ihre Wege mitging. Danach flohen Mose und die jungen Israeliten aus Ägypten und irrten 40 Jahre durch die Wüste. Und Gott hatte Inter-esse an ihnen, befreite sie, war mitten unter ihnen, begleitete sie, offenbarte ihnen seine Gebote des Lebens und führte sie ins verheißene Land. Gott war Jahwe, der „Ich-bin-da“.

Später baute Salomo dem Herrn einen Tempel und fragte sich gleichzeitig: „Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen Gott nicht, wie viel weniger das Haus, das ich gebaut habe!“

Wo also wohnt Gott?

Als Israel Jahrhunderte später vor der Vernichtung stand, gab ihm Gott folgende Zusage: „Juble und freue dich, Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und wohne in deiner Mitte – Spruch des Herrn.“

Gott hat Inter-esse an seinem Volk: Er will mitten drin wohnen.

Und dann wird Jesus geboren. Von ihm sagt der Evangelist Johannes: „Gottes Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Der Evangelist Matthäus nennt ihn mit einem Ehrentitel „Immanuel – Gott ist mit uns“. Ein Geheimnis bis heute: In diesem Menschen Jesus von Nazareth ist Gott selbst mit uns und unter uns!

Und was sagt Jesus selbst?  3 Sätze nur will ich nennen:

„Wo zwei oder drei in meinem Namen eines Herzens sind, da bin ich mitten unter ihnen.“

Jesus ist da, Jesus ist gegenwärtig, wo Menschen in seinem Namen und in seinem Geist beisammen sind – z.B. … jetzt.

„Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ Jesus wohnt und ist da in den Ärmsten, in den Kranken und Sterbenden, in den Hungernden und Gefangenen, in den Obdachlosen und Flüchtlingen, in den Verzweifelten und Einsamen. Wenn wir ihm begegnen wollen, müssen wir Inter-esse an den Armen haben, dazwischen sein, helfen und an ihrer Seite stehen.

Und Jesus sagt: „Wer mich liebt, hält fest an meinem Wort. Mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“ Jesus und unser Gott, den er und wir Vater nennen, sie werden bei uns wohnen, wenn wir den Geboten Gottes, der Bergpredigt und dem Vorbild Jesu folgen. Gott in uns, in mir, in dir, … weil er uns , mich und dich liebt.

Wo also wohnt Gott?

Der Apostel Paulus hat das letzte Wort Jesu so ausgedrückt: „Ihr seid ein Tempel Gottes und Gottes Geist wohnt in euch.“

Gott wohnt in uns? Naturwissenschaftler können uns von oben bis unten durchleuchten und werden Gott nicht finden. Nicht im Herzen, nicht im Gehirn, weder in Zellen noch Molekülen. Gott ist nicht be-greifbar, fassbar oder messbar. So wenig wie das, was wir Seele nennen.

Therese von Avila legte Gott in einem Gedicht folgende Worte in den Mund: „Seele, suche Mich in dir. Du bistMein Haus und Meine Bleibe, bist Meine Heimat für und für.“

Wo wohnt Gott?

Wir können Gott nicht dingfest machen. Paulus hat recht, wenn er sagt: „In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Also kann er nicht in uns wohnen, sondern nur wir in ihm. Inter-esse: Wir sind und leben in Gott.

Doch auch Jesus hat recht: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ Nirgendwo erkennen wir Gott unter uns so deutlich wie in den Worten und Taten, wie im Leben und Sterben Jesu. Inter-esse: Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden.

Das aber bleibt alles äußerlich, wenn nicht auch stimmt: Gott wohnt in uns, in unserem Innersten, ob wir es Herz oder Seele nennen. Inter-esse: Gott ist ganz tief in uns.

Und zugleich stimmt auch dies: Gott wohnt im Miteinander, in der Nächstenliebe, im Inter-esse aneinander. Dieser Liedruf bringt es auf den Punkt: „Wo die Güte und die Liebe, da ist Gott.“ Inter-esse: Wo wir in Liebe und Hilfsbereitschaft bei unseren Mitmenschen sind, da begegnen wir Gott.

Eine tiefe Wahrheit benennt Martin Buber mit folgender Erzählung: Rabbi Mendel überraschte seine Schüler mit der Frage: „Wo wohnt Gott?“ Sie lachten und sagten: „Was für eine Frage! Die Welt ist doch voll von seiner Herrlichkeit!“ – Der Rabbi beantwortete seine eigene Frage so: „Gott wohnt, wo man ihn einlässt!“ Inter-esse: Wir lassen Gott in unser Sein und Leben – nicht nur sonntagvormittags als Gast, sondern als den Ursprung, den Sinn und das Ziel unseres Lebens.

Wir sind interessierte, wache Christen, wenn die Frage der Jünger und die Antwort Jesu für uns aktuell bleiben:  „Herr, wo wohnst Du?“ – „Folgt mir und erkennt es selbst!“

Der Niederländer Huub Oosterhuis hat ein Gedicht verfasst, das ich mit Euch zusammen gern beten möchte. Danach halten wir eine längere Stille. Jede und jeder ist eingeladen, das Gehörte zu bedenken.

Herr, unser Herr, wie bist du zugegen und wie unsagbar nah bei uns.

Allzeit bist du um uns in Sorge, in deiner Liebe birgst du uns.

Du bist nicht fern, denn die zu dir beten, wissen, dass du uns nicht verlässt.

Du bist so menschlich in unsrer Mitte, dass du wohl dieses Lied verstehst.

Du bist nicht sichtbar für unsre Augen, und niemand hat dich je gesehn.

Wir aber ahnen dich und glauben, dass du uns trägst, dass wir bestehn.

Du bist in allem ganz tief verborgen, was lebt und sich entfalten kann.

Doch in den Menschen willst du wohnen, mit ganzer Kraft uns zugetan.

Herr, unser Herr, wie bist du zugegen, wo nur auf Erden Menschen sind.

Bleib gnädig so um uns in Sorge, bis wir in dir vollkommen sind.

Originaltitel: Lied van Gods aanwezigheid   Text: Huub Oosterhuis    Übertragung: Peter Pawlowsky & Nikolaus Greitemann

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Gotthard Fuchs

Hinknien, um aufzustehen

„Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ So kommentierte Willy Brandt seinen Kniefall am Denkmal der ermordeten Bewohner des Warschauer Ghettos, genau vor fünfzig Jahren. Ein bewegendes Zeichen, umso mehr als dieser Bundeskanzler ja selbst zu den Verfolgten der Nazis gehörte. „Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht“, vertraute er später seinem Freund Egon Bahr an. Der uralte Demuts- und Huldigungsgestus wurde zum öffentlichen Bekenntnis von Schuld, der Bitte um Vergebung. Jüngst hatte Colin Kaepernick, der dunkelhäutige „Beckenbauer“ der amerikanischen Football-Szene, beim Singen der Nationalhymne dasselbe gemacht: Er kniete aus Protest gegen grassierenden Rassismus, in Solidarität mit den Opfern. Und das geschieht immer noch.

Solch ein Kniefall ist offenkundig das Gegenteil von Einknicken und fauler Ergebung, erst recht von Knicks und Etikette: Es ist nämlich hinknien, um aufzustehen. Entscheidend ist, ob jemand in Freiheit, aus Überzeugung anderen die Ehre gibt – oder ob er in die Knie gezwungen wird, ohne einzuwilligen. Wo alle strammstehen, kann Hinknien geradezu revolutionär sein, brandgefährlich. Doch wo alle weiche Knie haben und umfallen, braucht es Mut und Demut, um für seine Überzeugung wortwörtlich einzustehen.

Für Christen war das Stehen ursprünglich die liturgische Grundhaltung, besonders beim „Appell“ des Evangeliums und im großen Dankgebet. Im Hochgebet heißt es: „Wir danken dir, dass du uns berufen hast, vor dir zu stehen und dir zu dienen“. Das schloss immer Wider-Stand ein: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, heißt es in der Apostelgeschichte (5,29). Freilich wurde die byzantinische Kaiserhuldigung mit all ihren Unterwerfungsgesten auch kirchlich vorherrschend. Knien wurde dadurch allzu oft zur Geste fauler Unterwürfigkeit und rückgratloser Ganzhingabe, selbst „Gott“ gegenüber.

Alles, was uns in die Knie zwingen will, braucht unsere widerständige Antwort. Nur eines kann uns in Freiheit bezwingen: jene Solidarität und Liebe, in der das Geheimnis Gottes erscheint. Deshalb gilt grundsätzlich, das „Knie (zu) beugen vor dem Namen Jesu“ (Phil 2,10). Die drei Könige an der Krippe machen genau das. In der Todeszelle formulierte Alfred Delp: „Das gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände sind die Urgebärde des freien Menschen.“ Ähnlich dachte die niederländische Jüdin Etty Hillesum im Verlauf ihrer Selbst- und Gottesentdeckung. „Gestern Abend kurz vor dem Zubettgehen kniete ich plötzlich mitten in diesem großen Zimmer zwischen den Stahlstühlen auf dem hellen Läufer nieder. Ganz spontan. Zu Boden gezwungen durch etwas, das stärker war als ich selbst.“ Es gilt nämlich, „in der entferntesten und stillsten Ecke des eigenen Inneren niederzuknien und so lange knien zu bleiben, bis der Himmel über einem wieder klar und rein ist und es sonst nichts mehr gibt.“ Und das tut sie ungebrochen noch im Lager Westerbork, bis zur Deportation 1943 nach Auschwitz.

Übrigens waren damals nur 41 Prozent der Westdeutschen mit Brandts Kniefall einverstanden. In der DDR durfte es überhaupt kein Thema sein. 48 Prozent fanden es übertrieben, und 11 Prozent hielten sich raus. Es bleibt immer dieselbe Adventsfrage, vor wem oder was wir in die Knie gehen und wofür wir wirklich einstehen.     Gotthard Fuchs in: Christ in der Gegenwart 49/2020